Gheorghe
Crăciuns Roman kann nicht als bloße Nacherzählung der Verhängnisse
einer Frau gelesen werden. Seine Triebkraft entspringt zwangsläufig
einer anderen Quelle als dem Mitleid mit dem Schicksal eines „Opfers
der Gesellschaft“. Nur an der Oberfläche kann Puppa
russa
als ein „realistischer“ Roman betrachtet werden, der
nachzeichnet, wie Leontina Guran, ein „typisches“ Mädchen aus
einem anonymen Dorf, allmählich ausgehöhlt wird, wie sie infolge
der mal direkten, mal heimtückischen Zwänge des kommunistischen
Systems ihre Humanität einbüßt.
Als Kind
entdeckt sie zusammen mit ihren Spielkameraden einen alten
Fallschirm. Die Kinder vergraben ihr Fundstück, um es aufzuheben –
was, sobald der Dorfpolizist davon Wind bekommt, ein brutales
Untersuchungsverfahren auslöst, an dem sich auch geheimnisvolle
Gestalten „vom Bezirksamt“ beteiligen. Später, als Leontinas
Basketballmannschaft sich zu einem Gastspiel im Westen aufhält, hegt
sie Fluchtgedanken, von denen wiederum „das System“ erfährt, so
dass sie, unter Drohungen des Ausschlusses von ihrem Studium der
Sportwissenschaften, erpresst wird, Spitzelin des Geheimdiensts zu
werden.
Dann geht
Leontinas
Schicksal (oder jene Macht, die unter den konkret-historischen
Bedingungen des kommunistischen Rumäniens das Schicksal ersetzt) von
Drohungen zu Versuchungen über. Leontina wird ein Posten der
„Koordinations-Koordination“, d. h. eine Tätigkeit als
Ausbilderin in einem Bezirksapparat des kommunistischen
Jugendverbands, angeboten. Wie sich bald herausstellen wird, besteht
ihre Hauptaufgabe in dieser Funktion darin, die sexuelle
Gratifikation der ausschließlich männlichen „höheren
Besoldungsgruppe“ der Institution, in die sie sich nun integriert,
zu besorgen.
Es gibt
folglich genügend Elemente, die es rechtfertigen würden, den Roman
als „Lebensgeschichte einer Frau“ zu sehen, deren „Schicksal“
mit symbolischer Kraft die essentielle Inhumanität des Kommunismus
veranschaulicht. Dennoch wird jeder, der Gheorghe Crăciuns
Reflexionen zur Literatur in ihrer Entwicklung verfolgt hat, jeder,
der ihn in seiner Tiefe, Subtilität und interdisziplinären Öffnung
als einen der wichtigsten humanistischen Intellektuellen Rumäniens
in den letzten Jahrzehnten kennt, nicht ernsthaft glauben, dass sich
der Bestimmungsort des Romans darauf beschränkt.
Gheorghe
Crăciun thematisiert tatsächlich die Macht der Determinationen. Er
tut dies mit derselben Beharrlichkeit, mit der das Thema auch Madame
Bovary, das Modell, zu dem sich der Autor explizit bekennt, bestimmt
– legt es doch Gustave Flauberts berühmter Roman darauf an,
gleichzeitig eine individualpsychologische Untersuchung und eine
Milieustudie durchzuführen. Ähnlich wie der französische
Romancier, dessen Persönlichkeit immer wieder wie ein Schattenriss
aus dem Filigran des Romans hervortritt, verflicht auch Gheorghe
Crăciun die äußerst akute soziologische und biologische
Wahrnehmung der conditio
humana
mit der hieratischen Schönheit der Kontemplation, mit dem
ausgiebigen und geduldigen Ausfeilen aller Details. Was den
Flaubert’schen Ausgleich zwischen „Naturalismus“ und
„Ästhetismus“ suggerieren könnte. Crăciuns Synthese vollzieht
sich jedoch in einer ganz anderen sozialen und intellektuellen Epoche
und nimmt so eine andere Struktur und Bedeutung an.
Crăciuns
Absicht ist tatsächlich, einen „menschlichen Typus“ zu zeichnen,
aber er versucht in diesem Prozess keineswegs, eine „Lebensillusion“
zu schaffen. Im Unterschied zu Emma Bovary ist Leontina Guran von
Anfang an eine hypothetische Gestalt. Die Kennzeichen ihrer
Virtualität sind nicht hinter dem Vorhang der „Notationen“
versteckt, die eine „Atmosphäre“ oder das „Fleischfarbene“
einer realistischen Gestalt erzeugen. Meiner Meinung nach setzt
Gheorghe Crăciun eine subtile, also paradoxe, Zurschaustellung ein,
um zu suggerieren, dass die „Frau“, die er uns vorstellt, nicht
der direkten Beobachtung des „Lebens“, sondern einer
Wahrscheinlichkeitsrechnung entspringt. Man sollte sie sich nicht in
der realistischen Maltechnik eines Courbet vorstellen (um eine mit
Flaubert zeitgenössische Referenz zu suchen), sondern eher in den
auf mathematischen Gesetzen gründenden visuellen Paradoxien, nach
denen die spiralförmig ausgehöhlten weiblichen Figuren von M. C.
Escher gestaltet sind.
Leontina Guran
ist –
und das macht der Autor offensichtlich – eine statische Fiktion.
Ihr Schicksal entspricht einem theoretischen Modell. Infolge eines
Kunstgriffs, durch den die Grenzen der klassischen Auffassung von
„Realismus“ und „Wahrscheinlichkeit“ immer weiter
hinausgeschoben werden, synthetisiert die Modellgestalt Leontinas
Determinationen, Situationstypen und Formen eines Sozialhabitus, die
üblicherweise mit der Alltagsmisere des Lebens im Kommunismus
assoziiert werden. Gheorghe Crăciun konstruiert eine Art Steckbrief,
in dem Erfahrung, Mentalitäten und kollektive Trugbilder als
Kräftelinien hervorgehoben werden, die wiederum eine Gestalt mit
derartigen persönlichen und biographischen Eigenschaften als
repräsentativ erscheinen lassen. Leontina Guran ist nicht in dem
Sinne realistisch, wie es die Gestalten Balzacs oder Flauberts sind,
sondern eher in analytisch-wissenschaftlichem Sinn, mit Blick auf die
soziologische Methode Max Webers und seinen „Idealtyp“. Leontinas
Lebenslauf ist eine Summe abstrakt-wahrscheinlicher Determinationen,
eine Ansammlung von Mustern, ein Flechtwerk kognitiver Szenarien.
Wir können uns
Gheorghe Crăciun
als Wissenschaftler vorstellen, der versucht, die Struktur der
Komplexität digital zu modellieren, indem er zur Konfiguration des
Verhaltens seines Untersuchungsobjekts immer mehr Parameter einführt.
Als Erstes wird ein Netzwerk der soziologischen Determinationen
vorausgeschickt: eine Dorfgemeinschaft, die von zahlreichen
Zersetzungsprozessen, von der kommunistischen Verstaatlichung, aber
auch von jenem „Zeitgeist“ zerfressen ist, der die Auflockerung
traditioneller Moralvorschriften begünstigt. Leontinas
Schicksalsschläge fangen dementsprechend in ihrer Familie an, als
ein gieriger Onkel versucht, von Ihrer Unschuld zu profitieren: eine
Standardsituation, die tief im imaginären System verwurzelt ist,
einem System, das von der Volkspresse anderthalb Jahrzehnte lang
eingebläut wurde.
Später wird
Leontina zum Subjekt eines Erziehungssystems, das als Mechanismus zur
Einschärfung der Fügsamkeit, eigentlich der bis zur Perversität
getriebenen Doppelzüngigkeit präsentiert wird. Unter der
blickdichten Kuppel der Erziehung im Geiste der „sozialistischen
Ethik und Gleichheit“ wird das Mädchenheim, in dem die frisch
urbanisierte Leontina während ihrer Gymnasiumsjahre wohnt, zum
Schauplatz geheimer sapphischer Rituale. Hier „modelliert“ der
Schriftsteller virtuos die Tendenz des Volksverstandes, die
moralische mit der sexuellen Korruption gleichzusetzen. Die wahre
Erziehung Leontinas ist eigentlich „unterschwellig“ und erfolgt
nicht in Klassenräumen, sondern in diesem kargen, verpesteten
Schülerheim, das einem Gefängnis gleichkommt. Wie im Falle eines
Kerkers, besteht das „Heim“ (der Wortsinn selbst ist ironisch)
aus einer paradoxen, unbegreiflichen Verquickung von Kontroll- und
Unterdrückungssuggestionen einerseits (die nicht nur am „System“
liegen, sondern auch an der internen Hierarchie der Gruppe) und der
völligen sexuellen Gesetzlosigkeit andererseits. Den gymnasialen
Orgien der Mädchen wird somit, wenn auch karikiert und in ihren
unmittelbaren Eckdaten unwahrscheinlich, die Konsistenz einer
kollektiven Fiktion verliehen: hierbei handelt es sich nicht so sehr
um jene Konsistenz, die mit der Grammatik der „verbotenen Wollust“
zu tun hat, sondern vielmehr um die Beständigkeit, mit der
Unterdrückungsinstitutionen eher als Schule des Lasters denn als
Schule der Tugend wahrgenommen werden.
Auch der
erwachsene Werdegang Leontinas ist mit einer Reihe negativer sozialer
Stereotype verkeilt. Das Bild der Hauptgestalt wird in Abhängigkeit
von der allgemeinen Allergie gegen den kommunistischen Diskurs über
„die Beförderung von Frauen in Verantwortungspositionen“
gezeichnet. So wie die Super-Heldinnen der Computerspiele den
Emanzipationsbestrebungen der zeitgenössischen weiblichen Jugend im
Westen Ausdruck verleihen, so entspricht auch Leontina einem
abstrakten Modell der „Nachfrage“, nur handelt es sich in ihrem
Fall um den negativen, dämonisierten Archetypus der „Parteihure“,
jener Gestalt, die im Panoptikum, das das Alte Regime imaginär
kodifiziert, unerlässlich ist. Die Entscheidung über das Schicksal
seiner Heldin überlässt Gheorghe Crăciun mit diskreter, aber
tödlicher Ironie den Trägheiten und mechanischen Determinationen
der „Mentalitätsgeschichte“, die wie unpersönliche Gewalten
wirken: eine athletische und sinnliche Frau mit einem ausgesprochenen
Unabhängigkeitssinn wird zwangsläufig zur „Hure“, also zur
„Denunziantin“, also gierig und schlau, also bereit, sich für
ein warmes Plätzchen im Propaganda-Apparat der Partei zu
prostituieren, aber selbstverständlich dumm genug, sich für recht
unbedeutende Privilegien zu verkaufen.
An dieser
Stelle ist es nützlich, uns auf die Bedeutung des Titels zu
konzentrieren. Die Formel „Pupa russa“ hat viel Verwirrung
gestiftet: weil die Kapitelüberschriften in lateinischer Sprache
formuliert sind, kann man schlussfolgern, dass der Autor eine
lateinische Bezeichnung für etwas erfunden hat, was es in der
römischen Welt selbstverständlich nicht gibt: eine „russische
Puppe“. Gehen wir davon aus, dass Gheorghe Crăciun nicht auf die
Lexika des Vatikans zurückgriff, also auf Nachschlagewerke aus jenem
Staat, in dem Latein die offizielle Sprache ist und der infolgedessen
fortwährend Ausdrücke konstruiert, die im klassischen Latein nicht
existierten, so ist es wahrscheinlicher, dass es sich um das moderne
Italienisch handelt. Was uns angesichts des Status' der Hauptgestalt
die mentalen Bilder jener Epoche ins Gedächtnis ruft, als die ersten
Touristenwellen, meist junge Italiener, nach Rumänien kamen und in
der die Bestrebungen der jungen weiblichen Einheimischen, gute
Beziehungen zu unseren romanischen Verwandten aufzubauen, automatisch
als „schlechte Sitten“ verurteilt wurden.
Jenseits dieser
linguistischen Scharade interessiert der äußerst reichhaltige und
doppelsinnige Symbolgehalt der „Puppe“. Die italienische Version
des Wortes suggeriert eine Art diskrete Zärtlichkeit, die aber der
Autor der Hauptgestalt nur äußerst selten zuteil werden lässt.
Zudem ist von einer russischen Puppe die Rede, das heißt von einem
Spiel zwischen Hülle und Verhülltem, zwischen Behältnis und
Inhalt, das mental entweder bis zu einer Art letzter geheimer Essenz
oder bis zum absoluten Nichts fortgeführt werden kann.
Aber die
„Puppe“
assoziiert natürlich auch eine Symbolik der absoluten Passivität.
Es ist etwas, das an der Oberfläche zwar die Zeichen der Humanität
trägt, das sich aber als bewegungsloses Objekt herausstellt, dazu
prädestiniert, als Sündenbock missbraucht zu werden, als
Blitzableiter für die Wut und Frustrationen, für die obskuren
Instinkte der „Gemeinschaft“ zu dienen. Gheorghe Crăciuns
Leontina erinnert an jene Puppen, die in Unfallsimulationen für die
Untersuchung des körperlichen Aufpralls eingesetzt werden. Nicht nur
bezüglich der Form, sondern auch bezüglich der menschlichen
Körperdichte hat Leontina Ähnlichkeit mit den ausgestopften
Figuren, die, mit Gurten an die Fahrersitze angeschnallt, mit voller
Wucht gegen eine Mauer gefahren werden.
Die Dekodierung dieser Allegorie
ergibt Folgendes:
A) „Das
Fahrzeug“
stellt die diffusen, aber arglistigen und allgegenwärtigen
kollektiven Mentalitäten und Vorstellungen dar, auf deren Bahnen
Leontinas Existenz entlang gleitet. Immerfort auf unterschiedliche
Weisen begehrt, ermutigt, verlockt, verführt, ist Leontina von der
ätzendsten Verachtung umgeben, sobald sie sich den Leidenschaften
oder Interessen anderer ausliefert. Es handelt sich hier um die
archaischen Mechanismen der volkstümlichen Maskulinität, die in
einer verkehrt urbanisierten Gesellschaft zu Leerläufen, zu
Mechanismen des rohen und blinden Versagertums verkommen ist.
Leontina ist die Ent-Puppung der grotesken Phantasien der Männer in
ihrem Umfeld: „Sie wollen sie nicht umbringen, sie wollen ihr nicht
die Zähne einzeln ziehen, nicht die Nägel ausreißen, nicht die
Brüste mit dem Rasiermesser abschneiden, nicht den Bauch mit der
Säge aufspalten. Sie wollen sie nicht mit dem Handtuch ersticken,
nicht mit der Wäscheleine, dem Telefonkabel, dem elektrischen Kabel
erwürgen. Nein. [Nota
bene! All diese Verleugnungen sind Teil eines Diskurses, der sowohl
als die flüsternde Vorahnung Leontinas als auch das dumpfe Brüllen
des kollektiven Unterbewusstseins gedeutet werden kann. Sie sind
äußerst diffus und dienen nicht zur Minderung, sondern vielmehr zur
Verschärfung der Bedrohung.]
Sie wollen ihr in den Rücken fallen wie Hengste, ihr ins Gesichts
springen wie Satyre mit stinkendem Atem, sie an den Knöcheln packen
und hochhalten, um ihren Schoß mit ihren speckigen, haarigen Bäuchen
zu schänden.“ (S. 222).
B) „Die
Mauer“,
gegen die das Fahrzeug im imaginären Versuch auffährt,
repräsentiert die idealtypische funktionale Kohärenz des
totalitären Regimes, das theoretische Modell der perfekten Politik
des Zwanges – jene dunkle, dystopische Phantasie, die auch George
Orwell in seinem berühmten Roman 1984
darstellt. Schon ab den ersten Schuljahren wird Leontinas Kopf, wie
der einer Gummipuppe, einem drastischen Formatierungsprozess
unterzogen: „du musst deine Heimat lieben, [...] du musst alles
geben, alles lieben, also dein Haus, deinen Garten, die Kelle, die
Schaufel, die Bohrtürme, die Holzschläge und Steinbrüche, die
Hochöfen, Hammer und Sichel, Tannenwälder und Ährenfelder. Du
musst die Großmutter lieben, denn auch die Großmutter ist deine
Heimat. Du musst dein Buch und dein Schreibheft und das rote
Pioniertuch lieben, die auch deine Heimat sind. Und der Feldwebel
Ioviţă, der dir mit dem Stock über die Handfläche schlägt, der
ist auch deine Heimat, und die Genossin Lehrerin, die dich in die
Ecke stellt, weil du nicht artig warst, sie ist auch deine Heimat,
wie auch der sowjetische Soldat Matrosow, der mit entblößter Brust
kämpft und dich von den Feinden befreit. [...] Das Wort MUSS ist
Teil des Wortes Panzer, ist Teil des Wortes Krieg, ist Teil des
Wortes Soldat, ist Teil des Wortes Kind. Das Wort MUSS ist eine
strafende Feuerpeitsche, die über allen Häuptern schwebt“ (S.
150-151).
Die
Zusammensetzung von A) und B) ergibt die Vision dertiefen
Stabilität,der
langen Dauer
des real existierenden Sozialismus. Für Gheorghe Crăciun ist die
karnevaleske Fantasiewelt, die die Werte der offiziellen Ideologie
auf den Kopf stellt, nicht wirklich subversiv, sondern stellt eher
einen wesentlichen Bestandteil der sozialen Sulz sowjetischer Prägung
dar. Die anarchisch-orgiastische Volksfantasie verschmilzt in diesem
konstruierten Modell mit den Fantasien physischen Besitzens, die zum
Wesen der kommunistischen Leidenschaft für Rationalisierung und
Organisiertheit gehören. Dieses Zusammentreffen von Gegensätzen –
das wahre Geheimnis des „diskreten Charmes des real existierenden
Sozialismus“ – kommt kraftvoll und gleichzeitig subtil in den
Passagen rhythmischer Prosa zum Ausdruck, welche den „historischen
Hintergrund“, vor dem sich die Biographie der Hauptgestalt
abspielt, wiedergeben. Jedes Mal, wenn die politische Epoche
wechselt, zieht Gheorghe Crăciun einen neuen sprachlichen Vorhang
vor, in den subtil die Losungen der „neuen Etappe der Errichtung
des Sozialismus“ mit den urwüchsigen Zweideutigkeiten des
Volkswitzes verwoben sind. So, als würde man sich vorstellen, dass
das harte, energisch-kubistische Mosaik auf den Mauern der Stahl-
oder Traktorenfabriken in die leicht gebogenen Linien der Karikatur
übergeht. So als würden die „militanten“ Fresken Orozco Riberas
durch Goyas Capriccios durchschimmern. Die Wirkung greift jenseits
von Komödie oder bitterer Ironie: die rhythmische Prosa dieser
Übergangspassagen suggeriert eine monströse Monumentalität, in der
die Leiche des kommunistischen Utopismus ununterbrochen von einer
authentisch-vitalen, aber larval-blinden Ekstase gespeist wird.
Im
vorausgegangenen Satz habe ich den Schlüsselbegriff Monumentalität
als Voraussetzung für das Verstehen von Gheorghe Crăciuns
Unterfangen eingeführt. Die Intermezzi rhythmischer Prosa erzeugen
den Eindruck eines weitläufigen und lebendigen Panoramas Rumäniens
unter der Diktatur Ceauşescus.
Die Tatsache, dass der Spielfilm schnell abgerollt und so das
propagandistische Delirium in eine Komödie verwandelt wird,
annulliert nicht den Eindruck von Weite und Wucht. Der Film, den
diese Verschroniken suggerieren, scheint einen Eisenstein in
Erinnerung zu rufen, der, trotz der Hybridisierung mit Charlie
Chaplin oder Buster Keaton, seine Begabung für grandiose
Massenbewegungen beibehält. Ein so kolossaler Hintergrund lässt die
Gestalt im Vordergrund automatisch zu den Sternen fliegen. Sie wird,
wie der Amerikaner sagen würde, "überlebensgroß".
Leontina Guran ist als symbolische
Gestalt monumentaler Ausmaße
konstruiert. Ich kann nicht umhin, sie als eine Art dämonisches oder
dämonisiertes Negativduplikat zu sehen, umgeben von der Aura der
allumfassenden und paradiesischen „Riesenfrau“ der Prosa Mircea
Eliades.
In gewisser
Weise hat sie Ähnlichkeiten mit Jonathan
Swifts Gestalt Gulliver, der von den Liliputanern gefangen genommen
wird. Diese Ähnlichkeit mit Gulliver und der philosophischen
Literatur des 18. Jahrhunderts ergibt sich auch aus dem Eindruck
einer „theoretischen Gestalt“, den Leontina nicht zufällig
hinterlässt. Weil er die Experimente der ihm vorausgegangenen
realistischen Strömungen überwunden hat, verfällt Gheorghe Crăciun
keineswegs der Illusion der "Realitätsreflexion". Die
diffuse, aber konstante Monumentalität seiner Gestalt scheint mit
einer Beharrlichkeit, die dem Selbstbewusstsein des Autors
entspricht, den eigentlichen mentalen Mechanismus der Exponentialität
darzulegen. Leontinas Größe entstammt nicht der inneren Bedeutung
ihrer Taten und auch nicht deren Konformität mit einer absoluten
Norm, sondern der dionysischen Orgie der statistischen Vorstellung.
Dass Leontina eine repräsentative Gestalt ist, bedeutet für unseren
Autor nicht mehr eine formalisierte Beziehung zur Realität, sondern
ist Ausdruck der Formalisierungskraft selbst, des Bedürfnisses des
menschlichen Verstandes, eine plausible, wahrscheinliche Ordnung auf
die Unstimmigkeiten der Lebenserfahrungen zu projizieren.
Dies ist der
Grund, weshalb die „Situationen“, in die Leontina „sich
begibt“, keine "naturalistische" Konsistenz aufweisen. Es
fehlt vor allem die Illusion der Bewegung. Obwohl die Kennzeichen der
Sensationsepik vorhanden sind, wirken die Szenen eigentlich
suspendiert - eine Art eingefrorene mentale Experimente, deren Textur
absichtlich verdünnt ist, um den Durchblick auf die soziologischen
Parameter zuzulassen. Die Kunst Gheorghe Crăciuns besteht darin,
diese Suggestion theoretischer Abwandlung zur Suggestion der
hieratischen Kunstform der Hinterglasmalerei werden zu lassen. Die
analytische Einstellung des „Architekten von Fantasiewelten“ wird
immer wieder durch Subversion oder Konversion zur ästhetischen
Kontemplation umgemünzt. Zwischen die nüchterne Überlegung der
soziokulturellen Koordinaten der "Hypothese Leontina" und
die an Platon oder Petrarca angelehnte Fiktion klarer Konturen
schaltet sich ein Perpetuum mobile gegenseitiger Umwandlungen ein.
Gheorghe
Crăciun dekonstruiert die „naturalistische“ Illusion auch
dadurch, dass er auf das, was die Schulrhetorik als „innerstes
Gemüt“ der Gestalt bezeichnen würde, verzichtet oder es zwischen
Klammern setzt. Die „Gedanken“ Leontinas werden nie
„wiedergegeben“. Die Motivationen ihres Verhaltens, die etwaigen
Dilemmata oder Erörterungen, die Gewissenskrisen fehlen fast völlig
oder sind auf das für die Verständlichkeit der Narration absolut
notwendige Minimum reduziert. So gesehen ist Leontina die Stummheit
schlechthin, ein Charakterzug, der ihre statuenhafte und implizit
monumentale Präsenz unterstreicht. Ihr „Mysterium“ ist nicht
durch Mehrdeutigkeit und Entschwinden zu erklären, sondern durch
eine abstrakte, „theoretische“ Klarheit. Es wird durch die
überwältigende Entwicklung, die in der Naheinstellung auf die
Sinneswahrnehmungen zu beobachten ist, intensiviert. Infolge seiner
Beschäftigung mit der analytischen Philosophie (die eigentlich sehr
stark von den Theorien des französischen Textualismus’
abweicht, mit denen er fälschlicherweise assoziiert wurde), zeichnet
Gheorghe Crăciun seine Gestalt mittels einer Alternanz von rein
logischen, kognitiven Modellen der Realitätsdarstellung einerseits
und äußerst achtsam und fein wiedergegebenen Wahrnehmungsmustern
andererseits.
„Der
Bewusstseinsstrom“ der Hauptgestalt, dem gemäß einer älteren
narratologischen Konvention im Roman die Aufgabe zukommt, eine
Illusion zu erzeugen und die philosophische Idee eines vitalen
Kontinuums wiederzugeben, wird bei Gheorghe Crăciun durch eine
detailtreue Erfassung/Projektion von Empfindungen ersetzt, die die
kontinuierlichen Annäherungen der Infinitesimalrechnung suggerieren:
„Kalksand im Auge. Der Geruch alter Epidermis. Rauer Krauseminztee.
Das honigfarbene Fruchtfleisch der Mirabellen. Erhitzte Margarine.
Zerlassene Butter. Tannensplitterfeuer“ (S. 155-156). Von der
einfachen „Notationstechnik" (oder dem „Sekundenstil“, wie
es die deutschen Naturalisten um 1900 genannt hätten), gelangt
Gheorghe Crăciun zu umfassenden, symphonischen Entfaltungen, die
einen Bertrand Russel bei der Durchführung wagnerscher Atemübungen
suggerieren. Der Leser ist oft von dieser erstaunlichen Erweiterung
des „Unmittelbaren“ überwältigt. Die Wirkung ist ähnlich wie
bei dreidimensionalen Filmen, wo man den Eindruck hat, dass das Bild
aus dem Rahmen hervortritt und sich über die Zuschauer ergießt.
Eine weitere
Assoziation, die ich nicht zu unterdrücken vermag, auch wenn sie
wahrscheinlich allzu persönlich und exzentrisch ist, um sie
entsprechend kommunizieren zu können, ist jene mit den Filmen, die
Peter Jackson nach J. R. R. Tolkiens Herr
der Ringe
geschaffen hat. Ich möchte nicht missverstanden werden: es handelt
sich nicht um Tolkiens Text selbst, der auf der Ebene sensibler
Details eher trocken ist, sondern um die Verfilmung seiner Trilogie,
die gerade auf die Behebung dieses Mangels setzt. Jacksons Filme
beeindrucken gerade durch die Kraft und Glaubwürdigkeit der Details,
die dem „übernatürlichen“ Hintergrund gegenüberstehen. Ähnlich
geschieht es auch in Puppa
russa:
zwischen der Prägnanz der körperlichen Wahrnehmung und der
„unglaublichen“, „künstlich-theoretischen“ wie
„symbolisch-fantastischen“ Monumentalität der zentralen Gestalt
entsteht eine faszinierende Reaktion.
Einer der
Literaturtheoretiker, die die Generation Gheorghe Crăciuns
fasziniert hat (siehe diesbezüglich auch das Manifest-Eigenvorwort
Mircea Nedelcius, der anderen großen intellektuellen Persönlichkeit
der Prosa der 80er-Generation, zu seinem Roman Fabulierbehandlung),
ist Northrop Frye. Eine der weitgreifendsten Ideen des kanadischen
Geistlichen, der sich dem Studium der archetypischen Vorstellung
verschrieben hat, ist, dass die Geschichte des westlichen Epos’ als
eine kontinuierliche Degeneration der Position der Hauptgestalt
aufgefasst werden kann: ist in der klassischen Antike die Gestalt
gewöhnlich ein Gott, der der übernatürlichen Ordnung angehört,
oder ein Held, der das Erhabene der menschlichen Existenz verkörpert,
neigt der Held der modernen Literatur dazu, subhuman zu werden, auf
das ironische und entmutigende Bild einer Marionette reduziert zu
werden. Frye führt weiter aus, spekuliert, dass in dem Moment, in
dem die untere Grenze dieses Prozesses erreicht wird, in dem die
Gestalt den absoluten Tiefpunkt seiner „Erniedrigung“ erreicht
hat, eine Art Tendenz zur Wiederaufnahme dieses Zyklus’ zutage
tritt. Anders ausgedrückt, beginnt die Kunst des Absurden,
ritualistische Nuancen anzunehmen und die subhumane Marionette neigt
dazu, sich als Gottheit zu begründen.
Meiner Meinung
nach ist der Roman Puppa
russa
in Anlehnung an diese Theorie oder Vision konstruiert. Leontina Guran
ist gewissermaßen das ostentativ-negative Duplikat sowohl der
großen, fruchtbaren Göttin der spätneolithischen Cucuteni-Kultur
mit ihren tönernen Frauen-Idolen, als auch der emanzipatorischen
Mythen des „ewig Weiblichen“, die in der heroischen Epoche
unserer Modernisierung in Constantin Daniel Rosenthals Bildnis des
„Revolutionären Rumänien“ verkörpert sind. Dennoch scheint
jenseits jeder Ratio, auf eher physischer, somatischer Ebene, in fast
unbewusster Form, in Leontina etwas wie eine Hoffnung oder wie der
Wille zur Hoffnung zu überleben, auch wenn sie als Inkarnation einer
Apotheose des Versagens dargestellt wird. Die letztendliche Ermordung
Leontinas durch einen unbekannten Agenten, der somit zu einer
unpersönlichen Instanz wird, grenzt an ein rituelles Opfer und
eröffnet die Perspektive auf die Auslösung regenerativer Kräfte
der kollektiven Imagination. Der Tod Leontinas muss in den
monumentalen Ausmaßen ihrer Gestalt aufgefasst werden. Das Ende des
Romans zeigt sie als Objekt eines Exorzismus: das Opfer suggeriert
den kollektiven Willen der vom Kommunismus befreiten rumänischen
Gesellschaft, ihre tiefe, essentielle Feigheit zu vergessen, ihr
Schuldbewusstsein, ihre eigene moralische Misere zu verdrängen. Doch
die Todessymbolik regt fast unvermeidlich auch eine Symbolik der
Wiedergeburt mit an: die Gestalt Leontinas vermittelt auch den
Eindruck des blinden Muts zur Existenz, zum Überleben unter jeden
Bedingungen, trotz jeder Bedingungen.
Gheorghe
Crăciun
zwingt uns auf diese Weise, jenseits der üblichen Klischees, zur
Reflektion darüber, was der Mythos für uns, heute, hier und jetzt
bedeutet. Die Definition, die mir diese äußerst dichte Prosa
nahelegt, ist folgende: eine soziologische Chimäre, um die herum das
durchdringende Bewusstsein dessen, was wir über den Anderen und über
uns selbst nicht zu verstehen vermögen, wie ein Nimbus gerinnt und
fixiert wird. Eine durch die Annäherungen des experimentellen,
statischen Verstandes sorgfältig gezogene Kontur, aus deren Inneren
mit ordnender Kraft eine Art Fülle des Nichts hervorstrahlt.
Davon ausgehend
greift
Gheorghe Crăciun auf Gustave Flauberts berühmtes Geständnis:
„Madame Bovary bin ich“ zurück. Mit seinem „Leontina bin ich“
(S. 389) weist der Autor auf eine neue Bedeutungsebene dieser Aussage
hin. Emma Bovary oder Leontina Guran „sind“ nicht aus deshalb
ihre Autoren, weil sie aus den Wehen der empathischen Identifikation
der Autoren mit ihren Gestalten geboren worden wären, auch nicht
deshalb, weil sie die weiblichen Masken darstellen, unter denen die
männlichen Autoren die sensibelsten Seiten ihrer Persönlichkeit
darlegen könnten. Diese weiblichen Gestalten „sind“ deshalb ihre
Autoren, weil sie als symbolische Projektionen dafür stehen, was die
Autoren über sich selbst nicht zu verstehen vermögen. Sie sind ihre
Autoren, weil sie etwas sehr tief in deren Bewusstsein Liegendes zum
Vorschein bringen: ihre wesentliche Angst, die Unsicherheit der
eigenen Identität, die akute Klarheit im Verhältnis zu den Grenzen
der Verständlichkeit, zu den Grenzen der Empathie, aber auch der
ununterdrückbare Impuls der Überschreitung dieser Grenzen. Anders
gesagt, scheint nichts dem „eigenen Ich“ näher zu kommen als
Selbstzweifel und Selbstbefragung, als die eigene selbstbezogene
Hassliebe.